von Attra » 22.11.2011, 11:57
Sie war wieder im Eschental. Der alten Heimat. Dort, wo sie sich mit jedem Baum und jedem Wolf tief verbunden fühlte. Dort wo sie manchmal ihren Namen durch die Wipfel der Bäume flüstern hörte. Dort, wo jeder Stein "Heimat" schrie. Wo ihr jeder Grashalm und jeder Wildwechsel bekannt war. Die Sonne drang kaum durch das dunkle Laub der Bäume, die sich teils so nahe standen, dass sich ihre Äste zu einem dichten Blätterdach verwoben hatten. Das Licht schimmerte durch die blau-grünen Blätter in einem matten Violett und malte verschlungene Muster auf den moosigen Boden. Hoch über ihr konnte sie die Vögel kreischen hören, die im Winter nicht in den Süden zogen. Ab und an raschelte das Gebüsch um sie herum durch die Bewegungen der Kleintiere, die sich im Unterholz verborgen hatten.
Hinter ihr lag die lange Zeppelinreise nach Orgrimmar und der fast ebenso lange Ritt durch die Steppen des Brachlands, bis hin zum Schutzwall von Mor’shan. Und weiter in den Wald des Eschentals. Lange Stunden unter der drückenden Sonne, die die Weiten des Landes verbrannte, Stunden in denen sie über ihre schwache Hoffnung nachgrübelte, am Ende ihrer Reise wirklich ihn zu finden. In einer Ecke ihres Herzens hatte sich schwacher Zweifel gegraben. Sie hatte schon so viele Reisen unternommen, so viele Leute befragt. Händler, Diebe, Elfen, sogar den Abschaum der Madengesichter hatte sie um Rat und Hilfe gebeten. Niemand wusste auch nur das Geringste über sein Verschwinden, seinen Verbleib. Es schien, als hätte er sich damals im Sholazarbecken einfach in Luft aufgelöst. Als wäre er eins mit dem Dschungel geworden. Aber diese Vorstellung war lächerlich. Sie wüsste es, wäre dem so gewesen. Ihre Mak’hai hatte ihr nicht alle Geheimnisse anvertrauen können, bevor sie starb, aber sie erschien ihr noch oft genug im Traum. Träume in denen sie lange Zwiesprache hielt. In denen sie wieder Kind war, in denen sie wieder lernte, angeleitet von den weichen Händen der älteren Frau. Und aus genau demselben Grund wusste sie, dass er nicht tot war. Er wäre in ihren Träumen erschienen und dort so allgegenwärtig wie ihre Mak’hai. Natürlich träumte sie auch von ihm, nur waren das verzweifelte Bilder, nach denen sie voll Trauer und Angst um ihn aufwachte. Sie wusste einfach, er lebte noch. Und sie würde ihn finden.
Nachdenklich richtete sie sich im Sattel ihres Wolfes auf und blickte den Trampelpfad entlang, der sich durch den Wald schlängelte. Sie ritt schon seit einigen Tagen durch das Eschental. Und bald, bald würde sie aus den vertrauten Bäumen hinaustreten müssen und ihren Wolf und sich durch die verdorbenen Weiten des Teufelswalds führen. Auch wenn es noch nicht so weit war, der Gedanke daran ließ sie jetzt schon schaudern. Der Teufelswald war genauso verdorben, wie sein Name vermuten ließ. Die Druiden des Cenarius versuchten seit Jahren ihn zu heilen, aber die Verderbnis war tief in die Erde gesickert, wurde von den Pflanzen aufgesogen und war so in den Kreislauf der Natur gelangt. Selbst die Luft dort hatte den leichten Beigeschmack nach Schwefel und Eiter. Mit einem ungeduldigen Ruck ihres Kinns konzentriert sie sich wieder auf den Weg, der vor ihr lang. Er lebte noch, dessen war sie sich sicher. Und das war alles, was zählte.
Vielleicht zwei, drei Wochen war es her. Da hatte sie endlich - nach all der langen Zeit der Suche - etwas gefunden, dass ihr vielleicht weiterhelfen könnte. Ein knotiges Stück Wurzel des purpurroten Lotus. Sie hatte befürchtet, diese Pflanze wäre vollkommen ausgerottet, nachdem die Verlassenen das Hügelland eingenommen hatten und mit ihnen die Seuche dorthin kam. Aber sie hatte Glück. Ein verschrobener Goblinhändler, der quasi mit allem handelte, mit dem man handeln konnte, hatte ihr ein Stück der Wurzel besorgt. Ein Stück in dem der Lebensfunke noch nicht durch die Madengesichter ausgemerzt war. Sie hatte fühlen können, wie er in einem sanften Orangerot unterhalb der dreckigen Schale glühte. Einen ganzen Beutel Goldstücke hatte der Goblin ihr abgeknöpft. Aber das war es ihr wert gewesen. Sie hätte noch viel mehr gezahlt für das letzte Reagenz, das ihr noch für den Trank fehlte, der ihr vielleicht für einen Traum die Weitsichtigkeit verleihen würde, mit der sie ihn finden würde. Oder aus dessen Traum sie nie wieder aufwachen würde.
Sie war also mit ihrem kostbaren Schatz in die Donnerfeste zurückgekehrt. Hatte sich dort in ihrer Kräuterkammer eingeschlossen und mit den Vorbereitungen begonnen. Als erstes hatte sie ein kleines Stück Erdwurzel sowie eine Handvoll der Blüten des Maguskönigskrauts in ihren Mörser gegeben und beides zu einem dicken Brei zerstoßen. Nachdenklich blickte sie über ihre Fläschchen und Tiegel, die fein säuberlich geordnet in den Regalen an den Wänden standen. Mit einem entschlossenen Ruck hatte sie sich umgedreht und in dem Kessel, der immer über der Feuerstelle in der einen Ecke des Raums hing, vielleicht eine halbe Flasche voll geläutertem und destillierten Wasser mit den Blütenblättern von einer Dolde des Traumblatts erhitzt und dort den Brei hinein gerührt, bis sie nach einiger Zeit etwas hatte, das aussah wie braun-blau schillerndes Schmieröl. Kurz schloss sie die Augen, holte tief Luft, und zog die Lotuswurzel aus ihrem Beutel. Sanft strich sie über die raue, erdige Schale, legte die Knolle dann entschlossen auf ihren Arbeitstisch und raspelte auf einer kleinen Metallreibe etwas davon ab. Mit dem Häufchen geriebener Lotuswurzel in der Hand trat sie vor ihren Kessel, blieb einen Moment davor stehen und öffnete dann ganz sacht ihre Hand. Die Raspel rieseln ihr über die Finger, hinein in den Kessel. Vorsichtig rührt sie um und langsam nahm der Inhalt des Kessels die Farbe von geronnenem Blut an.
Sie stand lange am Kessel und starrte auf die langsam abkühlende Flüssigkeit im Inneren. Irgendwann langte sie mit traumwandlerischen Bewegungen nach ihrer Schöpfkelle und füllte den Inhalt des Kessels vorsichtig in eine irdene Schüssel. Nachdenklich schnupperte sie kurz daran, dann setzt sie die Schüssel an die Lippen und trank.
Einen Wimpernschlag später fiel ihr scheppernd die Schüssel aus der Hand, sie taumelte und fiel zu Boden. Das Letzte, an das sie sich erinnerte bevor sie einschlief, war der harte Stein unter ihrer Wange. Dann fiel sie in einen tiefen Traum.
Sie träumte, sie flog, flog über das Meer, über die Berge von Kalimdor, kreiste wie ein Adler, immer höher und höher über das Land, bis sie - als hätte sie ihre Beute entdeckt - hinabstieß, durch die stacheligen Äste der Bäume eines verdorbenen Waldes. Hinunter und weiter hinunter. Bis sie irgendwann, gestoppt von einer unsichtbaren Wand, über einem Höhleneingang schwebte. Und sie wusste, als hätte sie ihn gesehen, dort würde sie ihn finden. Dann schraubte sie sich wieder hinauf in den schmutzig gelben Himmel und dort, weit oben, zerfaserte ihr Traum in dunkle Gewitterwolken.
Zitternd wachte sie einige Stunden später in einer Pfütze ihres eigenen Erbrochenen auf. Schwach, wie ein neugeborener Welpe lag sie wimmernd auf dem Boden ihrer Kräuterkammer und würgte Galle und Blut. Aber nun wusste sie, wo sie ihn finden würde, finden könnte, wenn sie die Kraft dazu hatte.
Und so war sie aufgebrochen.
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